Achtsamkeit

WAS IST ACHTSAMKEIT?

Achtsamkeit ist einerseits etwas ganz Einfaches, Natürliches und Unspektakuläres, und andererseits doch ein Thema, das Bibliotheken füllen kann, soviel ist darüber geschrieben worden. Sie steht im Zentrum jahrtausendealter, östlicher Traditionen, in denen sie erforscht und als Erfahrungswissen überliefert wurde. Zugleich ist sie als Gegenstand westlicher wissenschaftlicher Forschung und in vielfältigen Anwendungen hochaktuell. Ihre Bedeutung als tiefgründige Ressource für Gesundheit, Bewusstseinsbildung und Stressbewältigung wird in den modernen achtsamkeitsbasierten Verfahren mit bemerkenswerten Erfolgen genutzt. Das letzte Jahrzehnt brachte der Psychotherapie und Medizin geradezu einen „Achtsamkeits-Boom“.

Es gibt unzählige Definitionen von Achtsamkeit. Eine könnte lauten:

Achtsamkeit ist eine natürliche, menschliche Fähigkeit, die wir alle besitzen und durch Übung stärken können. Achtsamkeit üben bedeutet, präsent zu sein, wach und bewusst in Kontakt mit der gegenwärti-gen Erfahrung, von Moment zu Moment, mit einer nicht wertenden, offenen und annehmenden Haltung, so gut dies möglich ist.

Oder eine längere Beschreibung von Jon Kabat-Zinn:

„Achtsamkeit beinhaltet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren. Sie macht uns die Tatsache bewusst, dass sich unser Leben in einer Folge von Augenblicken entfaltet – dass es aus nichts weniger als diesen Augenblicken besteht. Wenn wir in vielen dieser Augenblicke nicht völlig gegenwärtig sind, so übersehen wir nicht nur das, was in unserem Leben am wertvollsten ist, sondern wir erkennen auch nicht den Reichtum und die Tiefe unserer Möglichkeiten, zu wachsen und uns zu verändern“

Die Praxis der Achtsamkeit entschleunigt. Sie ermöglicht, mit sich selbst mehr in Kontakt zu kommen, die Dinge klarer zu sehen und angemessen mit Situationen umzugehen, statt mechanisch und gewohnheitsmäßig zu reagieren – das heißt auch, vorher nicht bemerkte Wahlmöglichkeiten zu erkennen.

Folgende Bausteine der Achtsamkeit sind in vielen Definitionen relevant: gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, Urteilsfreiheit, Akzeptanz und Anfängergeist.

Die beabsichtigte Aufmerksamkeitslenkung

bei der Achtsamkeitspraxis kann mit einem Scheinwerfer verglichen werden, wobei bewusst ausgewählt wird, welcher Aspekt der derzeitigen Erfahrung beleuchtet werden soll, und versucht wird, diesen Fokus zu halten. Z.B. kann man diesen „Bewusstseins-Scheinwerfer“ auf sich selbst und die eigene Innenwelt, Körperempfindungen, den Atem, die eigenen Gedanken oder auch auf Wahrnehmungen der Außenwelt mit den fünf Sinnen richten.

Wesentlich ist die Würdigung des gegenwärtigen Augenblicks und die Entwicklung einer engen Beziehung zum Hier und Jetzt.

Achtsamkeit zu praktizieren heißt, sich der Herausforderung zu stellen, jedem Augenblick Bedeutung zu verleihen. Oft verlieren wir in unserem Alltag den gegenwärtigen Augenblick aus den Augen – dabei ist dies die einzige Zeit, die wir tatsächlich erleben und in der wir handeln können. Damit … übersehen wir nicht nur das, was in unserem Leben am wertvollsten ist, sondern wir erkennen auch nicht den Reichtum und die Tiefe unserer Möglichkeiten, zu wachsen und uns zu verändern“ (J. Kabat-Zinn). Das Leben „rauscht“ an uns vorbei.

Urteilsfreiheit und Akzeptanz: Mit der Praxis der Achtsamkeit wird die natürliche Tendenz unseres Denkens, unsere inneren und äußeren Erfahrungen zu beurteilen, zu vergleichen, einzuordnen und zu kommentieren bewusst, und wie diese aus dem direkten Kontakt mit dem Erleben selbst führt.

Es wird eine Haltung von unparteiischem Beobachten kultiviert, ein untersuchendes, differenzierendes Wahrnehmen von allem, was im Augenblick entsteht, unabhängig davon, ob diese Erfahrung als angenehm oder unangenehm empfunden wird. Den Augenblick vollkommen zu belassen wie er ist und ihn anzunehmen bedeutet aber nicht Passivität oder Resignation, sondern im Gegenteil, öffnet uns den Erfahrungen des Lebens umfassender und ermöglicht, jeder Situation, die sich präsentiert, angemessener zu begegnen.

Anfängergeist bedeutet jene Haltung in der Achtsamkeitspraxis, die Dinge so zu betrachten, als ob sie zum ersten Mal wahrgenommen würden.

Statt sich aus der Annahme heraus, etwas schon zu kennen oder zu wissen, neuen Erfahrungen zu verschließen, und Situationen durch eine von den eigenen Vorannahmen gefärbte Brille zu sehen, wird eine offene Haltung eingenommen – vergleichbar mit dem unvoreingenommenen, neugierigen Blick eines Kindes.

Achtsamkeit in der Praxis

Im Grunde ist Achtsamkeit ein ziemlich einfaches Konzept. Nicht leicht ist aber ihre praktische Umsetzung und Anwendung – daher spielt bei der Entwicklung von Achtsamkeit Übung eine entscheidende Rolle. Die systematische Schulung erfolgt auf zwei Wegen, die beide notwendig sind, um sie in das Leben auch im Alltag zu integrieren:

Bei der formalen Achtsamkeitspraxis

wird mittels bestimmter Methoden trainiert, über eine bestimmte Zeitspanne hinweg wach und aufmerksam zu bleiben, wobei jede dieser Methoden einen bestimmten Fokus (oder wechselnde Objekte der Wahrnehmung) hat, auf den bzw. die die Aufmerksamkeit gerichtet wird. So kommen im MBSR – vergleichbar mit verschiedenen Türen, die in den gleichen Raum führen – die klassische Sitzmeditation, die Gehmeditation, der Bodyscan und eine Form sanften Yogas zur Anwendung. Der Stellenwert des Atems ist diesen vier Methoden gemeinsam. (Was auch immer der Fokus der Betrachtung ist, meist dauert es nicht lange, bis die Aufmerksamkeit davon abschweift – zu Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen usw. Dieses Abwandern der Aufmerksamkeit gilt es zunächst zu bemerken, um sie danach wieder zum ursprünglichen Fokus zurückzubringen).

Bei der informellen Achtsamkeitspraxis

versucht man, sich während alltäglicher Aktivitäten daran zu erinnern, gegenwärtig zu sein. Aufgrund der Tendenz des menschlichen Geistes, sich gewohnheitsmäßig in die eigenen Gedanken, Stimmungen und automatische Reaktionen zu verwickeln, ist diese Übung jedoch nicht so einfach, wie sie theoretisch klingt. Bei der informellen Praxis kann jede Tätigkeit, die ohnehin ausgeführt wird, wie essen, Haushaltsarbeiten, duschen etc., Gelegenheit zur Achtsamkeit sein, mit dem Vorteil, dass keine zusätzliche Zeit dafür benötigt wird, nur ein Verändern der inneren Haltung ist erforderlich.

Achtsamkeit, Weltanschauung und Religion

Achtsamkeit ist eine Fähigkeit des Bewusstseins, die jeder Mensch entwickeln kann. Sie ist Teil vieler spiritueller Wege, vor allem aber hat sie als systematische Schulung ihren Ursprung in der 2500 Jahre alten buddhistischen Tradition. Ihre Essenz ist jedoch auch außerhalb dieses Kontextes von universeller Gültigkeit,

man muss kein Buddhist oder Yogi sein, um achtsam zu leben. Die besondere Kraft dieser Methode liegt ja gerade darin, dass sie – für jede/n selbst an der eigenen Erfahrung überprüfbar – unabhängig von Glaubenssystemen und Ideologien funktioniert. Als Schlüsselwort der buddhistischen Lehre ist der Ausdruck „Achtsamkeit“ auch ein Feld für Missverständnisse und kann z.B. als kritische Selbstkontrolle, einschränkendes Überwachen und rigide Disziplin missdeutet werden. Vielmehr birgt sie als äußerst wirksame Methode zur Selbsterforschung und zur gesunden Lebensführung einen Weg, automatisierte Gedanken- und Handlungsmuster zu erkennen und daraus auszusteigen, mehr Klarheit, Gelassenheit und Lebendigkeit zu gewinnen, und kann das Leben auf unzählige Arten bereichern.

Achtsamkeitsmeditation hat auch nichts mit Realitätsflucht, Weltfremdheit und der Suche nach besonderen Geistes- und Trancezuständen zu tun, sondern findet ihre Anwendung im Gegenteil sehr konkret im normalen Leben und Alltag.

Als Übersetzung des Sanskrit-Wortes „smriti“ (Pali:“ sati“), was ursprünglich vor allem „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ bedeutete, entspringt die erweiterte Bedeutung von „Achtsamkeit“ der Erfahrung, dass wir vor allem die Momente im Gedächtnis, in lebendiger Erinnerung behalten, in denen wir vollkommen lebendig sind, in denen sich Herz und Geist ganz öffnen für die Frische und Intensität des Augenblicks.

Es könnte noch Vieles über verschiedenste Aspekte und das ungeheure Potential von Achtsamkeit gesagt werden. Letzten Endes kann das Wesen der Achtsamkeit aber nur individuell persönlich erfahren werden. Worte und Definitionen allein können es nicht vermitteln.